
In einer Zeit, in der Desinformation und digitale Manipulation zunehmend zur Gefahr für demokratische Gesellschaften werden, stand die diesjährige Digitalmesse re:publica in Berlin unter dem passenden Motto: „Who cares?“ – eine provokante Frage, die zum Nachdenken anregt.
Über 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten, wie sich Technologie, Gesellschaft und Politik im digitalen Zeitalter weiterentwickeln müssen – und vor allem: Wie die Demokratie unter diesen Bedingungen verteidigt und gestärkt werden kann.
Die digitale Demokratie unter Druck
Digitale Plattformen sind längst zu zentralen Schauplätzen demokratischer Auseinandersetzungen geworden. Was ursprünglich als Medium für freie Meinungsäußerung und politische Teilhabe gedacht war, hat sich in vielen Fällen zu einem Nährboden für Desinformation, Hassrede und Manipulation entwickelt. Im „Superwahljahr“ 2024 – mit Wahlen in den USA, der EU und vielen weiteren Ländern – wurde besonders deutlich, wie groß die Bedrohung ist.
Die Tübinger Ethikprofessorin Jessica Heesen warnte auf der re:publica eindringlich vor der Macht von Deepfakes und algorithmisch gesteuerter Meinungsbildung. Sie sieht die Demokratie in einer Phase tiefgreifender digitaler Transformation, in der „nicht nur neue Chancen, sondern auch neue Risiken“ entstehen. Besonders gefährlich sei, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht erkennen, wie stark ihre Wahrnehmung durch unsichtbare Mechanismen im Netz beeinflusst wird.
Auch der bekannte Soziologe Harald Welzer schlug in dieselbe Kerbe. In seinem Vortrag auf der Hauptbühne bezeichnete er die zunehmende Entgrenzung von Privatsphäre und Öffentlichkeit als „digitalen Angriff auf die Demokratie“. Wenn Menschen sich ständig überwacht fühlen oder durch automatisierte Mechanismen beeinflusst werden, gehe das Vertrauen in den politischen Diskurs verloren – mit potenziell fatalen Folgen für die gesellschaftliche Kohäsion.
Plattformregulierung: Zwischen Schutz und Zensur
Ein besonders kontroverses Thema war die Regulierung sozialer Medien. Bildungsministerin Karin Prien (CDU) betonte in einer Podiumsdiskussion, dass es dringend verbindliche Regeln brauche, um demokratiefeindliche Inhalte besser zu kontrollieren. Plattformen wie Facebook, X (ehemals Twitter) und TikTok müssten stärker zur Verantwortung gezogen werden, insbesondere wenn es um die Verbreitung von Desinformationen gehe.
„Wir können nicht länger tatenlos zusehen, wie demokratiefeindliche Narrative ungefiltert verbreitet werden“, sagte Prien. Sie plädierte für eine europaweite Regulierung und verwies auf den Digital Services Act (DSA) der EU als ersten Schritt in die richtige Richtung.
Doch nicht alle Teilnehmenden teilten diese Meinung. FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der ebenfalls auf einem Panel vertreten war, warnte vor einer „Zensur durch die Hintertür“. Für ihn ist Meinungsfreiheit das höchste Gut der Demokratie – auch wenn sie unbequem sei. „Wer entscheidet, was Desinformation ist?“, fragte Kubicki rhetorisch und verwies auf die Gefahr staatlicher Willkür.
Die Diskussion machte deutlich, wie schwierig der Balanceakt zwischen Schutz der Demokratie und Erhalt der freien Rede ist – und wie dringend ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über diese Fragen geführt werden muss.
Künstliche Intelligenz: Bedrohung oder Chance?
Ein weiteres zentrales Thema der re:publica war der Einfluss künstlicher Intelligenz (KI) auf demokratische Prozesse. Während viele Debatten die Bedrohung durch KI betonten – etwa durch automatisch generierte Falschinformationen oder Deepfake-Videos –, gab es auch Stimmen, die das Potenzial der Technologie hervorhoben.
Die niederländisch-indische Medientheoretikerin Payal Arora setzte einen bewusst positiven Akzent: KI könne, richtig eingesetzt, auch ein Instrument zur Stärkung demokratischer Teilhabe marginalisierter Gruppen sein – etwa in Ländern des globalen Südens, wo staatliche Strukturen oft schwach und Zugänge zu Bildung oder Informationen begrenzt seien. Chatbots in lokalen Sprachen, automatisierte Rechtsberatung oder smarte Beteiligungstools könnten hier echte Fortschritte ermöglichen.
Arora rief dazu auf, die Debatte nicht allein aus der westlichen Perspektive zu führen, sondern globale Ungleichheiten mitzudenken. „Demokratie ist kein europäisches oder amerikanisches Privileg. Auch technologischer Fortschritt muss global gerecht gestaltet werden.“
Demokratisierung des Digitalen
Ein Höhepunkt der Messe war die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich ebenfalls mit der Zukunft der Demokratie im digitalen Zeitalter auseinandersetzte. Er kritisierte den zunehmend enthemmten Tonfall in sozialen Netzwerken und mahnte eine „zivilisiertere Debattenkultur“ an. Demokratische Aushandlungsprozesse müssten wieder auf gemeinsamen Grundlagen beruhen – Fakten, Respekt und Gesprächsbereitschaft.
Steinmeier forderte eine verantwortungsvolle Regulierung der digitalen Sphäre, bei der Plattformbetreiber, Politik und Zivilgesellschaft gemeinsam an Lösungen arbeiten. Die Demokratie, so seine Botschaft, sei kein Selbstläufer, sondern müsse auch im digitalen Raum aktiv verteidigt werden.
Initiativen wie Civic Coding zeigten auf der Messe, wie das konkret aussehen kann. Die Plattform fördert gemeinwohlorientierte KI-Projekte, etwa zur Bekämpfung von Hassrede, zur Verbesserung digitaler Bildung oder zur Stärkung lokaler Beteiligung. Dabei geht es nicht nur um Technik, sondern auch um gesellschaftliche Werte: Transparenz, Teilhabe, Nachhaltigkeit.
Digitale Teilhabe und Inklusion
Ein oft übersehener Aspekt der digitalen Transformation ist die Frage nach Zugang und Inklusion. Während sich auf der re:publica viele Diskussionen um Technik und Regulierung drehten, richteten einige Panels den Fokus bewusst auf die Menschen, die bisher kaum vom digitalen Fortschritt profitieren.
So stellte die Initiative „Digitaler Engel“ des Vereins Deutschland sicher im Netz e.V. ihre Arbeit vor. Ziel ist es, älteren Menschen den Zugang zu digitalen Technologien zu erleichtern – nicht nur technisch, sondern auch kulturell. In Workshops, Sprechstunden und Erklärvideos wird vermittelt, wie digitale Dienste genutzt werden können, ohne sich ausgeliefert zu fühlen.
Auch für Menschen mit Behinderungen oder ohne ausreichende Sprachkenntnisse gibt es noch große Barrieren im Netz. Mehrere Akteure forderten daher barrierefreie Gestaltung digitaler Angebote und die stärkere Einbindung betroffener Gruppen in Entwicklungsprozesse.
Demokratie bedeutet immer auch Zugang zu Informationen und Teilhabe an Entscheidungsprozessen. In der digitalen Welt ist das nicht anders – doch der Zugang muss aktiv gestaltet und gesichert werden.
Wege zur Rettung der Demokratie im digitalen Zeitalter
Die re:publica 2024 zeigte deutlich: Die digitale Transformation ist kein rein technisches, sondern ein zutiefst politisches und gesellschaftliches Projekt. Demokratie lässt sich nicht durch Algorithmen retten – aber sie kann durch den klugen Einsatz von Technologie unterstützt werden.
Was es braucht, ist ein ausgewogener Ansatz:
- mit klaren Regeln für Plattformen,
- mit einem ethischen Rahmen für KI,
- mit niedrigschwelligen Angeboten für digitale Bildung und Teilhabe,
- und vor allem mit einer lebendigen Zivilgesellschaft, die sich nicht zurückzieht, sondern engagiert mitgestaltet.
„Who cares?“ lautete das Motto der Messe. Die Antwort darauf kann nur lauten: Wir alle.
Denn nur wenn wir gemeinsam Verantwortung übernehmen – als Bürgerinnen und Bürger, als Entwickler und Entwicklerinnen, als Politikerinnen und Politiker –, kann es gelingen, die Demokratie auch in der digitalen Ära lebendig und widerstandsfähig zu erhalten. Die re:publica hat dazu einen wichtigen Impuls gegeben – und hoffentlich auch viele neue Fragen aufgeworfen, die weiter diskutiert werden müssen.